Warum Ruhe im Kopf nicht für alle Menschen ein realistisches Ziel ist
Ein Plädoyer für ehrliche Begleitung bei neurodivergenten Profilen
Von Anita Slowig
Wenn der Kopf nicht stillsteht – und das nicht (nur) ein Problem ist
Es gibt diese Momente, in denen der Körper erschöpft ist, der Kopf aber einfach nicht aufhört zu denken. Gedanken rollen sich durch endlosen Spiralen, springen von einem Thema zum nächsten, analysieren, bewerten, verknüpfen, springen wieder zurück. Wer dieses Erleben kennt, weiß: Das hat wenig mit mangelnder Achtsamkeit zu tun – und viel mit einer anderen Art, die Welt zu verarbeiten.
Besonders neurodivergente Menschen – etwa jene mit einem ADHS- oder AuDHD-Profil – kennen diesen inneren Dauer-Sendebetrieb, bei dem der Geist permanent auf Empfang ist. Diese unaufhörliche Aktivität ist bei diesen Menschen nicht pathologisch, und gleichzeitig kann sie für die Betroffenen belastend sein. Viele wünschen sich deshalb vor allem eines: Ruhe im Kopf.
Doch was, wenn diese Ruhe nicht im klassischen Sinne erreichbar ist?
Was, wenn das, was viele Coaches und Therapeutinnen als Ziel formulieren, für neurodivergente Menschen ein Versprechen bleibt, das nicht zu ihrer Realität und ihrem Betriebssystem passt?
Warum die Sehnsucht nach einem ruhigen Geist nicht für alle erfüllbar ist
In einem kürzlich gelesenen Newsletter wurde beschrieben, wie sich durch gemeinsames Sprechen, Verstehen und Reflektieren bei einer Klientin „endlich Ruhe im Kopf“ eingestellt habe. 14 Tage nach dem Coaching habe sie wieder durchgeschlafen, sei innerlich ruhiger und nicht mehr so sehr in Gedankenspiralen gefangen.
Das klingt nach einer wunderbaren Erfahrung, einem tollen Erfolg – und kann in bestimmten Kontexten absolut stimmig sein.
Aber: Nicht jede innere Unruhe lässt sich durch Verstehen und Bearbeiten auflösen.
Vor allem bei Menschen mit einer neurodivergenten Grundstruktur (wie ADHS, Autismus-Spektrum, Hypersensibilität, Vielbegabung etc.) liegt der Ursprung dieser inneren Betriebsamkeit nicht (nur) in ungelösten inneren Konflikten, Prägungen oder Schutzmechanismen – sondern im neurobiologischen Grundzustand des Gehirns.
Meine eigene Reise: Vom Heilungsdruck zur Selbstannahme
Über viele Jahre habe ich selbst versucht, „das laute Radio in meinem Kopf“ zu beruhigen.
Ich glaubte, es sei ein Zeichen dafür, dass ich noch immer nicht „fertig sei“, noch immer etwas auflösen, durchfühlen oder verstehen müsse.
Ich sah die Gedankenaktivität als Ausdruck meines komplexen Traumas, meiner schwierigen Familiengeschichte, meiner unvollendeten Prozesse.
Und ja – zum Teil war das auch wahr.
Und: es war nicht die ganze Wahrheit. Meine ganze Wahrheit.
Der eigentliche Wandel kam in dem Moment, als ich spürte:
Hier ist nichts, was wegtherapiert oder weggecoacht werden muss.
Nicht mein Denken war zu viel. Meine innere Unruhe und Hyperaktivität waren keine Fehler oder Störungen.
Ich erkannte – nicht kognitiv, sondern nahm in meinem Körper wahr–, dass ich einfach anders ticke.
Dass mein Nervensystem anders verdrahtet ist.
Dass mein Kopf denkt. Und denkt. Und denkt – und darin auch Schönheit eines forschenden und hinterfragenden Geistes liegt.
Mit dieser verkörperten Erkenntnis fiel ein großer Druck von mir ab – und „Ruhe“ im Sinne eines inneren Friedens durch Selbstakzeptanz stellte sich ein.
Ich hörte auf, mich ständig optimieren zu wollen, mich in meinem Sosein zu hinterfragen, mich zu therapieren.
Auch hörte ich auf, meine Eltern oder Ahnen dafür verantwortlich zu machen.
Ich drehte mich nicht mehr um alte Themen und Trauma – sondern wandte mich meinem So-Sein zu. Der Heilungsdruck war abgefallen. Halleluja. Was für eine Entlastung.
Heute weiß ich: Ich bin nicht falsch. Ich bin auch nicht kaputt. Und auch kein Alien, auch wenn ich mich in manchen Momenten immer noch so fühle.
Ich bin anders schön. Neurodivergent – und das bedeutet, dass ich sehr mehr sehe, mehr fühle, mehr denke, mehr wahrnehme.
Das ist bisweilen seeehr anstrengend, ja. Und ich muss mehr als neurotypische Menschen auf meine Reizgrenzen achten, damit ich mich nicht verliere oder dissoziiere.
Nochmal: es ist keine Schwäche, keine Störung. Es ist meine Natur. Und die ist schwer in Ordnung.
Genauso, wie sie ist.
ADHS ist kein Alarm, keine Störung, den man abschalten kann
Menschen mit ADHS oder AuDHD denken oft nicht linear, sondern assoziativ, springend und vielschichtig. In Feldern, Netzen oder Matrizes. Ihr Gehirn sucht beständig nach Reizen, Aufgaben, Sinnzusammenhängen, Logik. Dies geschieht nicht willentlich, sondern u.a. als Folge einer veränderten Reizverarbeitung und Dopaminregulation im Gehirn.
Sie erleben oft:
- Permanente mentale Aktivität, auch in Ruhephasen
- Reizoffenheit, die nur schwer zu regulieren ist
- Hyperfokus – das völlige Aufgehen in Details oder Aufgaben, bis hin zur Erschöpfung
- Impulsivität auf gedanklicher, emotionaler oder Handlungsebene
- Mentale / Emotionale Übersteuerung bei Reizüberflutung
Diese Symptome sind keine Zeichen einer inneren Unordnung, sondern Teil einer anderen kognitiven Realität. Deshalb ist es weder realistisch noch hilfreich, ihnen zu suggerieren, dass sie bei genug Reflexion, Coaching oder Meditation „einfach“ Ruhe finden werden – im Sinne eines leeren, stillen Geistes.
Ich selbst meditiere seit über 15 Jahren – fast täglich, oft zwischen 20 und 45 Minuten.
Meine Praxis ist tief eingebettet in den buddhistischen Weg des achtgliedrigen Pfades, mit dem Fokus auf Achtsamkeit, ethischem Handeln und Selbstmitgefühl.
Diese kontemplative Praxis hat mir unglaublich geholfen, mich wohlwollender zu betrachten, meine Natur zu erforschen und mich selbst liebevoll anzunehmen. Sie hat mir Räume eröffnet, in denen ich mich nicht länger als „falsch“ oder „zu viel“ empfand.
Vielleicht trägt diese tägliche Praxis auch dazu bei, dass ich heute nicht mehr unter meiner neurodivergenten Natur leide, sondern sie als Teil meiner Essenz anerkenne und würdige.
Und doch:
Auch nach all den Jahren lässt sich die Gedankenfülle in meinem Kopf nicht „wegatmen“ oder „wegmeditieren“.
Achtsamkeit ist für mich keine Technik zur Selbstberuhigung – sondern ein Weg der Erweiterung / Expansion und Integration.
Diese Integration geschieht nicht über Nacht. Sie braucht Zeit, Geduld, Mitgefühl – und Räume, die nicht auf neurotypische Erfahrungswerte ausgerichtet sind.
Aus genau diesem Grund gestalte ich auch meine Meditationskreise neurodivergenzfreundlich und traumasensibel.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft es ist, wenn Achtsamkeitsangebote ausschließlich für Menschen gemacht sind, deren Nervensystem nach klassischem Muster funktioniert.
Meditation kann ein sehr wertvoller Begleiter sein –
aber nur, wenn sie nicht zur Normierung oder Selbstoptimierung verwendet wird,
sondern als liebevolle Einladung, sich in der eigenen Natur zu beheimaten.
Kontext oder Konstitution? Eine wichtige Unterscheidung
In Coachingprozessen ist es oft hilfreich, innere Alarmzustände, Gedankenschleifen oder Stressreaktionen auf ihren Ursprung hin zu untersuchen:
Was schützt dieser Zustand vielleicht? Welche Erfahrung liegt darunter?
Doch hier ist Differenzierung entscheidend:
Kontextuelles Symptom |
Konstitutionelles Merkmal |
Entsteht durch Prägung, Trauma, Bindungserfahrung |
Entspringt der neurobiologischen Grundstruktur |
Kann durch Verstehen, Arbeit, Integration abnehmen |
Bleibt als Grundtakt erhalten, braucht Umgangsstrategien |
„Reaktion“ auf etwas |
„Betriebsmodus“ des Gehirns |
Wer diese Unterscheidung nicht trifft, läuft Gefahr, neurodivergente Menschen mit unpassenden Methoden zu begleiten – und ihnen das Gefühl zu geben, „falsch“ oder „nicht weit genug“ zu sein.
Ich habe das selbst erlebt.
Mir wurde – gut gemeint – erklärt, meine innere Unruhe und Ängste seien Blockaden, die ich einfach „wegcoachen“ lassen könne. Ich müsse mir nur das richtige Mindset zulegen, alte Glaubenssätze umformulieren und fest daran glauben, dass auch für mich Leichtigkeit möglich sei.
Was als Einladung gedacht war, hat in mir eine tiefe Identitätskrise ausgelöst.
Ich begann ernsthaft zu zweifeln: Warum gelingt es mir nicht, trotz all der Arbeit an mir selbst? Warum bleibe ich in diesen Gedankenschleifen hängen? Was stimmt nicht mit mir? Und warum wird es gefühlt immer schlimmer?
Statt mich zu stärken, hat mich diese pauschalisierte Mindset-Logik nur weiter von mir entfernt.
Sie hat mein ohnehin fragiles Selbstbild erschüttert und mein altes „Aliengefühl“ – dieses leise Empfinden, anders zu ticken als alle anderen – nur noch verstärkt.
Heute weiß ich:
Es lag nicht an mangelnder Motivation, fehlender Einsicht oder „negativem Denken“.
Es lag daran, dass ich versuchte, mit Werkzeugen zu arbeiten,
die nicht zu meinem Nervensystem und meiner Betriebsart passten.
Mindset-Arbeit, Glaubenssatzarbeit und Affirmationen können äußerts kraftvolle Wegbegleiter sein – aber nur, wenn sie nicht zum Reparaturprogramm werden für etwas, das nicht kaputt ist.
Wenn Affirmationen Druck machen, statt Mitgefühl zu schenken und wenn „Mindset“ zum neuen Leistungskriterium wird, dann reproduzieren sie genau die Norm, die viele neurodivergente Menschen jahrelang klein gemacht hat.
Was wir brauchen, ist keine weitere Methode zur Selbstverbesserung – sondern Räume, in denen wir in unserer ganzen Unterschiedlichkeit sein dürfen.
Ohne Optimierungsauftrag. Ohne Reparaturversuch. Ohne versteckte Norm.
Was kann wirklich helfen? Neue Definitionen von Ruhe
Was also hilft Menschen mit einem hyperaktiven Kopf, einem ständigen empfangs- und sendebereiten Nervensystem, einem Denken in Matrizen?
Nicht das Versprechen von Stille – sondern:
- Erlaubnis, dass Ruhe anders aussehen darf
- Pausen vom Außen, nicht vom Innen
- Strukturen, die entlasten – statt kontrollieren
- Räume, in denen auch die innere Lautstärke willkommen ist
- Verständnis, dass viele Strategien neurotypischer Selbstregulation nicht greifen
Vielleicht bedeutet Ruhe für einen neurodivergenten Menschen:
- In Bewegung zu kommen, um Gedanken zu sortieren
- Gedanken zu notieren, statt zu stoppen
- In Klang, Ritual oder Naturverbindung zu schwingen, statt zu schweigen
- Nicht allein zu sein mit der Lautstärke im Kopf
Achtsamkeit ohne Erwartung: Neurodivergenzfreundliche Begleitung
Achtsamkeit, Selbstfürsorge, Coaching / Mentoring – all das kann auch für neurodivergente Menschen heilsam und hilfreich sein. Wenn es nicht mit stiller Erwartung einhergeht.
Eine zugewandte, wohlwollende Begleitung:
- wertet nicht, was „zu viel“ oder „zu laut“ ist
- verspricht keine Lösung, wo es kein Problem gibt
- stellt keine Norm wieder her, sondern schafft Verbindung, verhilft zur Integration
Sie sieht: Dieser Kopf denkt viel – und das darf er.
Sie fragt: Was brauchst du, um dich in deinem Denken sicher zu fühlen? Und diese Krafzt zu nutzen?
Und sie bietet an: Ich bin da. Nicht um dich zu beruhigen – sondern um dich zu begleiten.
Und du?
Wenn du dich in diesen Zeilen wiederfindest, bist du nicht allein.
Vielleicht gehörst du auch zu den Menschen, deren Kopf nie still ist – und die lange glaubten, das sei ein Zeichen für eine Störung oder Unruhe.
Ich möchte dir sagen:
Dein Denken ist keine Krankheit. Deine Tiefe kein Fehler. Dein Sende- und Empfangsmodus keine Schwäche.
Und: du darfst lernen, damit zu leben.
Mit Mitgefühl. Mit wohlwollenden Strategien. Mit realistischen Erwartungen.
Und mit einer Begleitung, die nicht leise macht, sondern dich hört und würdigt.
Schlussgedanke: Kein Projekt, kein Problem – einfach du
Vielleicht ist genau das der wichtigste Schritt auf dem Weg zu innerem Frieden:
Nicht mehr alles als Symptom zu deuten. Nicht mehr alles optimieren zu wollen.
Sondern zu erkennen:
„Ich bin nicht falsch – ich bin anders. Und das ist in Ordnung.“
Denn manche innere Unruhe ist keine Wunde, sondern deine natürliche Frequenz. Deine Musik. Dein Sender.
Manche Tiefe ist kein Trauma, sondern dein Wesen.
Ich muss mich nicht reparieren, um ich selbst zu sein.
Ich darf ankommen – in meiner Natur, meinem Rhythmus, meiner Andersartigkeit.
Nicht als Projekt. Sondern als Mensch.
Herzensgrüße,
deine Anita