Maskiert bis zur Erschöpfung
Warum mein Zusammenbruch Sinn ergab
(und wie ich mich befreit habe)
Von Anita Slowig
Vielleicht kennst du das Gefühl, gleichzeitig aufs Gas und auf die Bremse zu treten: Ein Teil von will hinaus in die Welt – tanzen, kreieren, sich zeigen. Ein anderer Teil sehnt sich nach Decke-über-den-Kopf, nach Struktur, nach Stille.
Willkommen in der Innenwelt feinfühliger, neurodivergenter Menschen – mit AuDHD/ADHS oder einer tiefen Reizoffenheit, die in keine Schublade passt.
In diesem Text erzähle ich, wie ich mich jahrzehntelang maskiert habe – angepasst, fleißig, „funktionierend“ – bis mein System die Notbremse zog. Und wie ich Stück für Stück einen anderen Weg gefunden habe: raus aus der Selbstverleugnung, rein in eine geerdete Selbstverbundenheit und Authentizität.
Was „Masking“ wirklich ist – und warum es auf Dauer so erschöpft
Masking bedeutet, Verhaltensweisen, Bedürfnisse oder Reizreaktionen zu überdecken, um in einer normierten Umwelt „durchzugehen“, zu funktionieren. Das kostet enorme kognitive und emotionale Energie – oft unbemerkt, weil es sehr früh erlernt wurde. Studien zeigen: Besonders bei menschen mit einem autistischen Profil steht starkes Camouflaging in Zusammenhang mit mehr Angst, depressiver Stimmung und Erschöpfung. Das heißt nicht, dass dieses Masking „falsch“ war – oft war es ein Schutz, eine Überlebensstrategie. Aber auf Dauer zerrt es an Nerven, Identität und leider auch an der Gesundheit. PMCScienceDirect
Wie sich Masking bei mir zeigte: Perfektion statt Fehlerfreundlichkeit. Höfliche Anpassung statt ehrlicher Grenzen. Lächeln statt klarer Kommunikation: „Das ist mir zu viel“. Struktur bis zum Starrsein – und gleichzeitig: ein inneres Beben, wenn das Leben grau und reizarm wurde. Ich bin ein Farbenmensch und ich liebe Ordnung, Symmetrie, Struktur. Beides ist wahr. Beides braucht Platz.
Wenn Neurodivergenz & Hormone dieselbe Bühne teilen
Rückblickend war mein Burnout / Zusammenbruch kein zufälliger Sturm. Er war ein Zusammentreffen von drei Wellen:
- Langjährige Anpassung / Masking → schleichende Selbstentfremdung und Daueranspannung.
- Neurodivergente Verstärker → Reizoffenheit, Hyperfokus, das Übergehen der Grundbedürfnisse, Perfektion als Coping-Strategie.
- Hormonelle Umstellung → Perimenopause als „Lautstärkeregler“ fürs Nervensystem.
Ein paar Worte zur hormonellen Ebene: Östrogen moduliert im Gehirn u. a. Serotonin- und Dopamin-Systeme – das erklärt, warum Stimmung, Antrieb und Stressverarbeitung in Phasen starker Schwankungen mitbetroffen sein können. Progesteron (bzw. sein Metabolit Allopregnanolon) wirkt GABAerg – also eher beruhigend; auch hier können Veränderungen Unruhe verstärken. Das ist biochemisch gut beschrieben, auch wenn Menschen individuell sehr unterschiedlich reagieren. PMC+1
Für eurodivergente und von ADHS-betroffene Frauen mehren sich Hinweise, dass zyklische Hormonfluktuationen Symptome beeinflussen können – etwa mehr Unaufmerksamkeit / Impulsivität in Phasen raschen Östrogenabfalls. Das Feld ist jung, aber die Tendenz ist konsistent. PubMed+1ScienceDirect
Burnout – ein Label mit Grenzen
Die WHO definiert Burnout als
- arbeitsbezogenes Syndrom (Erschöpfung, Distanz / Zynismus, reduzierte Wirksamkeit). Das hilft, eine Sprache für den Zustand zu haben – greift aber zu kurz, wenn auch
- neurobiologische und
- hormonelle Faktoren mitspielen oder wenn Masking im Alltag ein größerer Stressor ist.
Mein Hinweis: Das Label kann Orientierung geben, erklärt aber nicht die ganze Geschichte. Weltgesundheitsorganisation+1
Mein Befreiungsweg: Brücken schaffen anstatt Selbstpptimierung
Ich habe aufgehört, mich „richtig“ machen zu wollen. Stattdessen baue ich Brücken, die meine Gegensätze verbinden / halten:
- Erlaubnis & Sprache: „Ich bin nicht zu viel – ich bin vielschichtig.“ Worte regulieren.
- Atem & Vagus: Längeres Ausatmen, Summen, sanftes Tönen. Einfach. Und Wirksam.
- Innere Anteile: Nicht „Was stimmt nicht mit mir?“, sondern „Wer in mir braucht gerade was?“
- Rhythmus statt Routinezwang: Struktur ja – aber lebendig, atmend. Fokus-Spannen und echte Pausen.
- Körperweisheit: „Faultieryoga“, Barfuß gehen, moderates Laufen – Reiz ableiten, Erdung spüren.
- Reizgestaltung: Mehr Farbe, Düfte, Klänge – und gleichzeitig klare reizarme Zonen.
- Gemeinschaft: Räume, in denen Unmasking sicher ist – z. B. meine HerzRäume / Stillen Suchenden.
Medizinische Klärung: Wenn du dich in diesem Text wiederfindest, nimm perimenopausale Beschwerden bitte ernst. Evidenzbasiert hinschauen – von Lebensstil bis (sofern passend) Therapieoptionen.
Hinweis: Fachgesellschaften betonen: Hormontherapie ist die wirksamste Behandlung für vasomotorische Beschwerden; nicht-hormonelle Optionen sind wichtig, wenn HT nicht passt. Entscheidungen gehören in ärztliche Hände und werden individuell getroffen. PubMedLippincott Journals
Mini-Kompass für dich (alltagsnah & sanft)
1) Check-in (60 Sekunden):
Was spüre ich jetzt in Körper, Atem, Emotion?
Welche Reize sind zu viel? Was tut gut?
2) 3-teilige Brückenminute:
- 4–6 tiefe Atemzüge (Ausatmen minimal länger).
- 30 Sekunden Summen oder sanftes Tönen.
- Ein Satz: „Heute darf ich widersprüchlich sein.“
3) Reiz-Haushalt:
- Mehr: Natur, Licht, leise Bewegung, warme Getränke, eine Sache nach der anderen.
- Weniger: Multitasking, Dauerscrollen, grelles Licht, spontane Ja-sagen-Reflexe.
4) Zyklus/Übergang tracken:
Notiere 2–3 Wochen lang: Schlaf, Stimmung, Reizpegel, Fokus, ggf. Zyklus. Erkennst du Muster? (Gerade in der Perimenopause lohnend / wichtig.) PMC
5) Grenzen üben – klein, klar, freundlich:
„Heute brauche ich Stille. Morgen gern.“
Grenzen, die man aussprechen kann, muss der Körper nicht mehr als Symptom zeigen.
Für Fach-Nerds (kurz & knackig)
- Estradiol ↔ Neurotransmitter (Serotonin/Dopamin/Glutamat) → erklärt Stimmung/Antriebsschwankungen. PMC
- Progesteron/Allopregnanolon ↔ GABA-A → erklärt „natürliche Beruhigung“ und Sensitivität bei Schwankungen. PMC
- Camouflaging ↔ erhöhte Angst/Depression/Erschöpfung (assoziativ). PMCScienceDirect
- ADHS & Hormone: zarte, aber wachsende Evidenz für zyklusabhängige Symptomfluktuation. PubMed+1
- Burnout: arbeitsbezogene Definition – hilfreich, aber nicht umfassend. Weltgesundheitsorganisation
Journaling-Frage fürs Herz
Welche zwei Kräfte wirken gerade in dir – und was brauchst du, damit sie miteinander statt gegeneinander arbeiten?
Zum Schluss
Du bist nicht kaputt. Du bist komplex – und das ist ein Reichtum.
Wenn du Räume suchst, in denen du ohne Maske sein darfst, schau gern in meine Kreise wie HerzAnker und HerzReise oder Die Stillen Suchenden. Dort üben wir genau das: nicht perfekter werden, sondern verbundener.
Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine medizinische Beratung. Wenn dich hormonelle, emotionale oder neurodivergente Themen stark belasten, such dir bitte ärztliche / therapeutische Begleitung – am besten mit Erfahrung in Neurodivergenz und Frauen- / Menopause-Gesundheit.
Mehr zu meinen Gedanken findest du auch in meiner aktuellen Podcastfolge „Maskiert bis zur Erschöpfung – und wie ich mich befreit habe“:
Herzensgrüße,
deine Anita