Klartext: Zwischen Weiblichkeitswahn und Selbstermächtigung
Warum die Aufforderung, „mehr in die Weiblichkeit zu kommen“, kein spirituelles Wachstum, sondern ein modernes Rollenkorsett sein kann – und was wir stattdessen brauchen.
Wenn Spiritualität alte Muster wiederholt
Es klingt zunächst sanft und harmlos – fast wie eine Einladung zur Selbstfürsorge: „Du darfst mehr in deine Weiblichkeit kommen.“ In vielen spirituellen Kreisen wird diese Aussage als Weg zu Heilung, innerem Gleichgewicht oder gar zur Erleuchtung verkauft. Doch was, wenn genau diese Rhetorik neue Formen von Anpassung und Selbstverleugnung schafft – und alte patriarchale Muster nur in flauschigere Worte kleidet?
Persönliche Erfahrung: Vom Glauben an den Mythos
Ich selbst habe lange geglaubt, dass mit mir etwas nicht stimmt. Dass ich zu sehr „im männlichen Anteil“ sei – zu strukturiert, zu stark, zu klar. Mir wurde sogar gesagt, meine damaligen Erkrankungen seien ein Ausdruck davon, dass ich meine „weibliche Energie“ nicht lebe. Und ich habe es (zu lange) geglaubt – bis ich begann, zu hinterfragen:
- Wer definiert eigentlich, was „weiblich“ ist?
- Wer profitiert davon, wenn Frauen sich klein, angepasst oder leise machen?
- Und was bedeutet es wirklich, heil und ganz zu sein?
Weiblichkeit als spirituelles Konstrukt
Der Begriff „Weiblichkeit“ wird in vielen spirituellen und esoterischen Kreisen mit bestimmten Qualitäten aufgeladen: Hingabe, Empfänglichkeit, Intuition, Weichheit, Emotionalität. Diese Qualitäten sind wertvoll – doch sie sind nicht exklusiv weiblich, sondern zutiefst menschlich.
Wenn Weiblichkeit jedoch als energetischer Zustand verstanden wird, in den Frau sich zurückziehen soll, um „heil“ zu sein, entsteht ein neues Rollenkorsett:
- Die sanfte Frau ist spirituell weiter.
- Die strukturierte Frau ist im männlichen Prinzip gefangen.
- Die wütende Frau ist unerlöst.
Das ist nicht Heilung. Das ist Bewertung.
Spirituelle Selbstermächtigung braucht keine Zuschreibungen
Wahre Selbstermächtigung beginnt da, wo wir aufhören, in Kategorien von „zu viel“ oder „zu wenig weiblich“ zu denken. Es geht nicht darum, bestimmte Qualitäten zu unterdrücken oder zu verstärken, sondern alle Anteile zu integrieren:
- Klarheit und Mitgefühl
- Stärke und Sanftheit
- Struktur und Intuition
- Wut und Liebe
Ein reifer spiritueller Weg lädt dazu ein, sich ganz zu erfahren – nicht angepasst, sondern authentisch. Nicht „weiblich genug“, sondern wahrhaftig lebendig.
Eine neue Sprache der Freiheit
Es ist an der Zeit, die Sprache zu verändern:
- Von „du bist zu sehr im männlichen Anteil“ hin zu: „Was brauchst du gerade, um ganz du zu sein?“
- Von „du musst mehr empfangen lernen“ hin zu: „Wie kannst du in Beziehung treten – zu dir, zu anderen, zur Welt?“
- Von „du bist zu viel“ hin zu: „Du bist genug – so wie du bist.“
Fazit: Du bist kein Konzept, du bist ein Mensch
Die Einladung, „mehr in die Weiblichkeit zu kommen“, mag in bestimmten Kontexten hilfreich gemeint sein – doch sie läuft Gefahr, zur spirituellen Disziplinierung zu werden. Was wir stattdessen brauchen, ist ein Raum, in dem wir sein dürfen, was wir sind: lebendig, vielschichtig, widersprüchlich, klar, verletzlich, laut, leise.
Wir sind keine energetischen Prinzipien, wir sind Menschen. Und unser Weg in die Heilung beginnt dort, wo wir aufhören, uns kleiner, weicher oder weiblicher machen zu müssen – nur um zu genügen.
Vielleicht ist das die radikalste Form von gelebter Spiritualität: Ganz zu sein. Und darin frei.
Herzlichst,
deine Anita