Zwischen Feuerlöschen und Selbstvergessenheit
Wenn ADHS, Trauma und Perfektionismus sich überlagern – und wie du neue Wege findest
Von Anita Slowig
Ein persönlicher Einstieg
Im alten Beruf war ich immer die, die im Chaos den Überblick behielt. Die Feuerlöscherin. Die Spezialistin für die besonderen Fälle und die besonderen Kunden, die viel Aufmerksamkeit benötigten.
Diejenige, die im Job kurzfristig Unmögliches möglich macht, weil „nur du kannst das noch retten“. Unter Druck konnte ich am besten liefern, ich brauchte ihn sogar. Die Deadline, der Abgabetermin war mein Dopamin-Kick.
Doch was ich lange nicht gesehen habe: Ich funktionierte – ich lebte nicht.
Erst viel später begriff ich:
Mein scheinbar ruhiges, starkes Nervensystem war eigentlich ständig übererregt.
Mein scheinbarer Erfolg „nur“ eine Folge von Trauma-Anpassung, ADHS-Hyperfokus und perfektionistischem Selbstschutz.
Feuerlöschen als Lebensstil – und was dahinter steckt
Viele Menschen mit ADHS oder AuDHD (also ADHS mit Anteilen aus dem autistischen Spektrum) berichten von einem Muster, das auf den ersten Blick beeindruckend wirkt:
Sie funktionieren am besten unter Druck, übernehmen komplexe, verfahrene Aufgaben – und liefern Ergebnisse, während andere längst aufgegeben haben.
Was läuft hier wirklich im Hintergrund ab?
- Dopamin-Mangel bei ADHS
Das Gehirn von ADHS-Betroffenen produziert und verarbeitet Dopamin anders. Dopamin ist der Neurotransmitter für Motivation, Freude und Zielverfolgung. Er fehlt besonders in langweiligen, linearen, repetitiven Aufgaben – und wird nur bei echter Relevanz oder Dringlichkeit aktiviert.
➡️ Das erklärt, warum viele erst unter Zeitdruck produktiv werden.
➡️ Chaos, Krisen und Deadlines wirken kurzfristig regulierend – auf Kosten der Langzeitgesundheit.
- Trauma-Hintergrund & übererregtes Nervensystem
Bei vielen neurodivergenten Menschen liegen – wie auch bei mir – frühe Bindungstraumata vor:
Vernachlässigung, emotionale Abwertung, Gewalt oder Unsicherheit in der Kindheit.
Das Nervensystem lernt: „Ich muss stark sein. Ich darf keine Fehler machen. Ich muss allein klarkommen.“
➡️ Das führt zu Daueranspannung, innerem Alarmzustand und Perfektionsansprüchen.
➡️ Erfolg wird zur Überlebensstrategie – nicht zur freien Entfaltung.
Wenn Perfektion ein alter Schutz ist
In Vorbereitung auf diesen Artikel erinnerte ich mich gestern an den Moment, als ich mit 18 meine Abschlussprüfung zur Technischen Zeichnerin bestanden hatte.
Die Theorie mit einer 1, die Praxis mit einer 3. Ich war stolz wie Oskar – aber die Reaktion meiner Ausbilderin und Eltern blieb distanziert, kritisch, nüchtern.
Keine echte Mitfreude. Kein Juhuuu. Kein Feiern. Keine wertschätzende Umarmung.
Damals entstand bei mir ein tiefer Glaubenssatz:
„Meine Leistungen interessieren eh niemanden. Ich bin nur gut genug, wenn ich perfekt bin.“
„Meine Abschlüsse sind eh nichts wert. Ich auch nicht.“
Dieser Satz hat mich jahrelang geprägt.
Ich hängte die Latte höher und höher, um endlich gesehen zu werden – und rannte mich dabei leer.
Später brach ich meine Technikerausbildung im 6. Von 8 Semestern ab, bereitete mich mehr schlecht als recht auf die Heilpraktikerprüfung vor.
Ich hatte den Glauben an mich verloren, lange bevor ich überhaupt die Chance hatte, wirklich anzukommen.
Wenn Intelligenz nie richtig aufblühen darf
Viele neurodivergente Menschen – besonders Frauen – erzählen mir, dass sie das Gefühl haben, ihr volles Potenzial nie entfaltet zu haben.
Nicht, weil sie nicht intelligent wären.
Sondern weil sie früh lernten zu überleben – statt zu gestalten.
Auch ich kenne das. Lange hatte ich das Gefühl meine PS nicht richtig auf die Straße zu bekommen.
Ein Gehirn, das im Dauerstress ist, kann sich nicht kreativ entfalten.
Ein System im Überlebensmodus hat keine Kapazität für Strategie, Vision oder Selbstverwirklichung.
Und so glauben viele:
„Ich bin nicht gut genug. Ich bin faul. Ich krieg es einfach nicht hin.“
Aber in Wahrheit warst du nie faul. Du warst erschöpft.
Und deine Intelligenz war da – nur blockiert durch Angst, Druck und Anpassung.
Der Alltag: Hyperfokus & Selbstvergessenheit
In meinem Alltag erkenne ich es bis heute:
Wenn ich im Tunnel bin, vergesse ich mich. Ich vergesse zu trinken, zu essen, Pausen zu machen.
Mein Mann übrigens auch.
Wir sind beide neurodivergent – und es fällt uns schwer, aus dem Tun ins Spüren zu kommen.
Der Körper bleibt immer ein bissken zurück.
Das Bedürfnis, zu funktionieren, zu liefern, nicht zu enttäuschen – ist stärker als der Impuls zur Fürsorge.
Viele meiner Klient*innen erleben das genauso.
Sie kommen mit Erschöpfung, innerer Unruhe, Reizüberflutung, Körpersymptomen – und merken oft erst im Gespräch: „Ich vergesse mich selbst – jeden Tag.“
Was sagt der Ayurveda dazu?
Ayurveda beschreibt dieses Phänomen ganz ohne Diagnose – aber mit großer Weisheit:
Wenn Grundbedürfnisse dauerhaft unterdrückt werden, steigt Vata an – das Prinzip der Bewegung, Luft und Leere.
Vata-Ungleichgewicht zeigt sich u. a. in:
- Schlafproblemen
- Reizoffenheit
- Nervosität
- innerer Leere
- Erschöpfung
- Verdauungsproblemen
- unregelmäßigem Lebensstil
Die Lösung ist nicht „mehr Disziplin“.
Sondern: Regelmäßigkeit, Wärme, Erdung, Verbindung.
Genau das, was auch neurodivergente Nervensysteme stabilisiert.
Ein kurzer Seitenblick in die Perimenopause
Und dann kommt noch etwas anderes dazu:
In der Lebensmitte sinkt der Östrogenspiegel – ein Hormon, das stark mit Dopamin und Serotonin zusammenhängt. Bei ADHS-Betroffenen kann das die Symptome massiv verstärken:
- Konzentration sinkt
- Emotionale Reizbarkeit steigt
- Müdigkeit nimmt zu
- Motivation schwindet
Gleichzeitig funktionieren viele gängige Empfehlungen (Fasten, Keto, Detox) bei ADHS-Betroffenen kontraproduktiv: sie destabilisieren den Blutzucker, erhöhen Cortisol, senken Serotonin.
Was stattdessen hilft:
- 3–5 regelmäßige Mahlzeiten mit komplexen Kohlenhydraten (z. B. Hirse, Süßkartoffel, Hafer)
- Warmes, gekochtes Essen
- Sanfter Tagesrhythmus
- Bewusste, liebevolle Selbststrukturierung
Vom Funktionieren zur Selbstannahme – was jetzt heilsam ist
Wenn ich heute zurückschaue, erkenne ich klar:
Ich habe viele Jahre nicht „falsch“ gelebt – ich habe so überlebt, wie es mein System damals konnte.
Die Anpassung, das Funktionieren, der Druck – sie waren keine Schwäche, sondern kluge Schutzreaktionen meines Nervensystems auf eine Welt, in der ich mich nicht sicher und gesehen fühlte.
Ich kann die Vergangenheit nicht ändern.
Aber ich kann beginnen, sie zu verstehen – und mit ihr Frieden zu schließen.
Denn das, was ich früher brauchte – klare Struktur, Verbindung, Mitfreude, liebevolle Spiegelung – darf ich mir heute selbst geben.
Nicht, weil ich alles allein schaffen muss.
Sondern, weil ich heute eine erwachsene innere Instanz habe, die für mich sorgen kann.
Mit Achtsamkeit, Selbstmitgefühl und einer neuen inneren Haltung beginne ich, neue Erfahrungen zu machen.
Ich lerne:
Ich bin auch ohne Leistung liebenswert.
Ich darf Pausen machen, ohne mich schuldig zu fühlen.
Ich muss nichts mehr beweisen – mir selbst am allerwenigsten.
Diese Reise ist nicht linear.
Aber sie führt mich nach Hause – zu mir selbst.
Und was jetzt?
Du darfst dir selbst eine neue Realität erschaffen.
Du darfst dem kleinen Mädchen in dir sagen:
„Ich sehe dich. Ich bin stolz auf dich. Du bist gut – auch wenn du nicht perfekt bist.“
Du darfst deinen Erfolg neu definieren:
Nicht als Reaktion auf den Druck anderer, sondern als Ausdruck deiner Wahrheit.
Du bist nicht falsch.
Du warst nie faul.
Du warst intelligent – in einem System, das dich nicht gesehen hat.
Aber jetzt siehst du dich selbst.
Und das ist der Beginn von allem.
Zum Weiterdenken:
- In welchen Momenten funktionierst du – statt dich verbunden zu fühlen?
- Wie würdest du handeln, wenn du sicher wärst, dass du nicht mehr alles retten musst?
- Was könnte entstehen, wenn du deinem Tempo, deinem Rhythmus, deinem Körper wieder vertraust?
Wenn dich dieser Artikel berührt hat, teile ihn gerne mit anderen Menschen, die sich in diesem Erleben wiederfinden.
Und wenn du dir Begleitung wünschst, um aus dem Funktionsmodus in die Verbundenheit zu kommen – melde dich bei mir.
Du bist nicht allein. Und du bist genau richtig, wie du bist.
Herzensgrüße,
deine Anita